Kriegstrauma in Musik verwandeln

Die Werke des Projekts „Balkan Affairs“ – in den Worten ihrer Komponist:innen

Hanan Hadžajlić (*1991, Bosnia and Herzegovina)
Requiem Ex Machina
„Ich war nicht im Krieg, Gott sei Dank. Aber ich kenne viele Menschen, die es waren – Menschen, die Familienangehörige verloren haben, Körperteile, und so weiter. Meine Generation ist mit kriegsbezogenen Erzählungen aufgewachsen, doch ich hatte nie das Gefühl, dem Thema direkt gewachsen zu sein. Meine Komposition ist ein subtiler Kommentar zu diesem Thema – durch das Prisma der abrahamitischen Religionen. Ich habe Auszüge aus einem orthodoxen Gebet verwendet, eine Melodie aus dem islamischen Gebetsruf, ein stilles Dhikr – und Fragmente aus dem Requiem-Text. Das Thema selbst war mir zu beängstigend, und ich dachte sofort an Mozarts Requiem, das zugleich erhaben und furchterregend ist. Daher gibt es auch eine Anspielung auf Mozart.
Auf dem Balkan waren wir von Politik umgeben. Sie war Routine. In den 1990er Jahren waren Nationalismus und Populismus sehr populär. Wir waren die Pioniere! Jetzt erlebt der Westen dasselbe, und wir könnten darüber Vorträge halten. Aber ich wollte mich vom politischen Kommentar distanzieren. Ich brauchte etwas Geistiges. In gewisser Weise ging ich zur Quelle zurück – denn während der Kriege kehrten die Menschen immer wieder zu religiösen Themen zurück.
Später hatten wir einen anderen Auftrag – Interviews mit Menschen aus unseren Ländern zu führen. Natürlich, wenn man fragt, wer den Krieg begonnen hat und wer schuld ist, bekommt man nur einen neuen Krieg. Also richteten sich meine Fragen eher darauf, wie Menschen es schaffen, zusammenzuleben und zu kooperieren. Das brauchen wir, um zu überleben. Und wir auf dem Balkan wissen das.
Ich lebe in Bosnien, einem wahrhaft multikulturellen Land. Von dieser Vielfalt umgeben zu sein, ist ein Segen – besonders in einer Welt, in der alles zu ähnlich wird. Aber bitte erzählt mir nichts von „meiner Kultur“ und davon, dass ich stolz darauf sein sollte. Was soll das heißen? Ich verändere mich jeden Tag. Ich weiß nicht, was ich morgen sagen werde.
Als eine Art Coda schrieb ich ein Stück – im Grunde ein Lied – für Johanna Vargas, Sopranistin der Neuen Vocalsolisten. Es kombiniert Tonband und Video und erforscht bestimmte Komplexitäten der Popmusik. Es steht etwas außerhalb des Kanons der zeitgenössischen Musik – oder des „Sample-Library“-Genres, wie ich es nenne. Normalerweise braucht es drei Sekunden, um zu erkennen, welchem Genre man angehört. Und wenn man zwei Quellen mischt, wird man sofort als „experimentell“ etikettiert. Bedeutet: Wir wissen nicht, wie wir das vermarkten sollen.
Der Text bezieht sich auch auf die Kinder Abrahams. So beginne und ende ich mit diesem Thema. Denn die Idee der Trennung – der Spaltung – ist in jeder abrahamitischen Religion tief verwurzelt. Adam und Eva, Abel und Kain, das Konzept des Teufels … Selbst Himmel und Meer wurden getrennt. Alles entstand aus einer Seele, und alles wurde geteilt. Es gibt immer diesen Moment des Verrats. Selbst im Stammbaum Abrahams gibt es Spaltung. Es ist schmerzhaft. Das ist die Welt, in der wir leben.
Das klingt vielleicht wie: „Oh, ich will Weltfrieden.“ Natürlich will ich das. Aber dies ist eine Reflexion auf sehr persönlicher Ebene. Schaut euch die Welt heute an. Was tut ihr? Warum? Für wen? Wo steht ihr – persönlich – in all dem? Erzählt mir nichts von ‚meiner Kultur‘. Wo – seid – ihr? Was ist euer wahrer Raum? Was ist eure Stimme?“

Helena Skljarov (*1993, Croatia)
The Blue Giraffe
„Die ganze Idee war für uns alle eine große Herausforderung. Dieses Projekt – eine Reflexion über die Balkankriege – wird von jungen Komponist:innen realisiert, die den Krieg selbst nie erlebt haben. Wir erhielten eine enorme künstlerische Freiheit. Und die entstandenen Werke sind alle sehr unterschiedlich geworden.
Mein Stück ist ein Märchen über eine blaue Giraffe, angesiedelt in einer imaginären dystopischen Stadt. Im Grunde eine Kindergeschichte – nur eine ziemlich brutale. Sie handelt von den Folgen, die nach jedem Krieg auftreten: Hass, Diskriminierung, Vorurteile gegenüber Fremden, gegenüber den „Anderen“. Einige Zuhörer:innen sagten, sie erinnere sie an Der kleine Prinz von Saint-Exupéry.
Es geht dabei nicht um die Balkankriege als solche – sondern um jeden Krieg. Diese imaginäre Stadt fürchtet ein Wesen mit einer anderen – blauen – Hautfarbe. Und am Ende stellt sich heraus, dass es nie blaue Haut hatte. Es lebte einfach im Wald, im Schatten. Wir sind alle gleich. Es ist also eindeutig ein Antikriegstück.
Ich dachte nie, dass ich irgendeine Art von Kriegstrauma hätte. Warum auch? Ich war damals noch nicht einmal geboren! Aber jetzt – drei Jahre nachdem wir dieses Projekt begonnen haben – frage ich mich: Warum habe ich ausgerechnet ein Märchen als Form gewählt? Warum „jeder Krieg“ und nicht dieser bestimmte? Warum eine abstrakte Stadt? Warum habe ich das Thema nicht direkt angesprochen? Könnte das eine Form von Selbstschutz sein – ein Weg, Abstand vom Thema zu halten? Ist es möglich, dass ich dieses Trauma doch in mir trage?“

Jug Marković (*1987, Serbia)
NULA
„Ich entwickle selten verbale Konzepte – weder mystische noch politische. Ich denke musikalisch. Für mich beginnt alles mit dem Klang. Die Verbindung zwischen Musik und Welt ist völlig willkürlich. Deshalb war dieses Projekt ungewöhnlich: Es zwang mich, von einem Konzept auszugehen. Außerdem wollte ich mich nicht direkt mit dem Thema Krieg beschäftigen und etwas tun, das bereits Hunderte meiner Kolleg:innen gemacht haben – vor allem in Literatur und Film. Ich wollte nicht pathetisch sein. Also beschloss ich, auf meine Kindheitserinnerungen an das Leben im Belgrad der 1990er Jahre zurückzugreifen. Ich war ein Kind – zu jung, um die Schwere der Ereignisse zu begreifen. Für mich war das meiste einfach nur spannend. Zum Beispiel das Geldwechseln auf der Straße oder das Tanken mit meinem Vater. Es fühlte sich wie ein Abenteuer an.
Ich machte eine Liste von Gegenständen, Bildern, Redewendungen, Situationen, Gerüchen und Farben, die ich mit dem Aufwachsen im damaligen Belgrad verbinde – und nutzte sie als kompositorisches Material. Zum Beispiel „devize“ – die Straßenhändler, die Dinar in Deutsche Mark umtauschten, wiederholten ständig dieses Wort, um Kund:innen anzulocken. Überall hörte man dieses Summen: „zzz“ – devize, devize, vzz, vzzz. Oder der Geruch von Benzin, den ich liebte – und immer noch liebe. Ich verbringe immer noch Zeit an Tankstellen, weil das der Geruch meiner Kindheit ist.
Die Folgen des Krieges waren in jedem unserer Länder unterschiedlich. An manchen Orten fielen Bomben und Gebäude wurden zerstört. Anderswo war der Hauptschaden wirtschaftlicher Natur, Familien zerbrachen, das Leben brach auf andere Weise zusammen. Ich lebte in einem Land, das vor allem durch die finanziellen Folgen des Krieges verwüstet wurde – nicht durch Gewalt an sich. Die Inflation war das sichtbarste Phänomen. Deshalb verwendete ich auch die täglichen Inflationsraten vom Dezember 1993 und die Nennwerte der Dinar-Banknoten als Material für das Stück. „Nula“ bedeutet „Null“ – all diese endlosen Nullen auf den Geldscheinen.
Wenn man an Krieg denkt, kommt einem zuerst Gewalt in den Sinn – nicht Geldwechsel. Wir haben unzählige Filme gesehen, in denen Soldaten Gewalt bringen. Aber niemand zeigt das alltägliche Leben gewöhnlicher Menschen, die sich weigerten, in den Krieg zu ziehen, die ihn ablehnten und einfach versuchten, ihr Leben weiterzuführen. Darin liegt kein Sensationseffekt – also bleibt es unsichtbar. Und ich habe mich bewusst entschieden, mit diesen Themen zu arbeiten. Das sind meine Balkane der 1990er Jahre.“

Ana Pandevska (*1985, Macedonia)
Electroacoustic mantra From Ex YU to EU
„Meine Idee war, über das zu schreiben, was mit meinem Land, Mazedonien, als Folge des Zerfalls Jugoslawiens geschah. Ich beschloss, das Stück Mantra zu nennen, weil der Versuch unseres Landes, Teil der EU zu werden, nun schon seit 33 Jahren andauert. All diese ständigen Gespräche über den Beitritt zu Europa waren wie ein Mantra, das sich in meinem Kopf festgesetzt hat – wie ein Ohrwurm oder ein schlechter Fernsehwerbespot. Deshalb wählte ich die musikalische Form des Rondos, die selbst eine kreisende Struktur darstellt – eine Art Schleife, die sich immer weiter dreht.
Später fügten wir eine Videokomponente hinzu: Gemeinsam mit der jungen mazedonischen Filmregisseurin Anastasija Lazarova Pilling filmten wir einige Menschen, die über ihre Erfahrungen und Erinnerungen an Jugoslawien sprachen. Für das Festival Voices. Berlin schrieb ich eine neue Komposition, die auf dem vorherigen Material basiert, aber in Form eines Spiels gestaltet ist – sodass die Ernsthaftigkeit des Themas in etwas Ironisches übergeht.
Ich verwende auch ein traditionelles mazedonisches Lied, Dve mi momi dve mi drushki – Lazarenki, das zu einem traditionellen Feiertag gesungen wird, wenn Kinder Gäste ins Haus einladen. Auch das ist symbolisch: Wir als kleines Land versuchen, Teil der europäischen Gemeinschaft zu werden. Das Lied erfordert nasalen Gesang – eine traditionelle mazedonische Technik – und ich war anfangs skeptisch, ob deutsche Sänger:innen das überhaupt bewältigen könnten. Aber dann stellte ich fest, dass sie fast alles können. Sie ließen es sehr originell klingen. Ich war beeindruckt – es ist eine sehr schwierige Technik.
Ich hatte viele Zweifel, wie jede Komponist:in. Ist es zeitgenössisch genug? Welche Harmonie soll ich verwenden? Gibt es genügend Pausen, damit die Sänger:innen natürlich atmen können? Gibt es überhaupt eine Botschaft darin? Will ich ein bestimmtes Gefühl hervorrufen? Alle möglichen Fragen. Und auch: Ist es vielleicht langweilig? Dann wurde mir klar, dass es langweilig sein soll. Es sollte sich nicht entwickeln, weil auch die Geschichte sich nicht entwickelt. Es gibt keine Kulmination in diesem Stück – und das ist Absicht. Es ist wie eine ständige Schleife.
Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob ich etwas zu diesem Thema geschrieben hätte, wenn es nicht diesen Auftrag gegeben hätte. Und wahrscheinlich würde ich auch nicht darauf zurückkommen. Zwei Stücke sind genug – ehrlich gesagt.“

Petra Strahovnik (*1986, Slovenia)
SCREAdoM
„Ich komme aus Slowenien, und der slowenische Krieg war sehr kurz und für die Zivilbevölkerung nicht allzu schwer. Aber ich erinnere mich, wie ich als Fünfjährige die Flugzeuge über unser Dorf fliegen sah. Später, während meiner Schulzeit, kamen viele Geflüchtete nach Slowenien, besonders aus Bosnien. Wir hatten ein Flüchtlingsmädchen in unserer Klasse, und ich erinnere mich noch genau an ihren Gesichtsausdruck. Als Kind kann man nicht begreifen, warum so etwas geschieht. Warum es Krieg überhaupt gibt. Man kann das Gewicht dessen einfach nicht erfassen. Keine empfindsame Seele kann begreifen, wozu wir Menschen fähig sind.
Als dieses Projekt entstand, lebte ich bereits in Den Haag. Ich habe viele Freund:innen und Kolleg:innen, die für das Jugoslawien-Tribunal gearbeitet haben – als Übersetzer:innen, Jurist:innen, Anwält:innen. Durch sie stieß ich auf Zeugenaussagen von Opfern, die Schreckliches erlebt haben. Mein Stück basiert auf dem Text einer anonymen „Opfer 87“. Sie erzählt ihre Geschichte – wie sie während der Jugoslawienkriege von Offizieren in Bosnien vergewaltigt wurde.
Noch bevor ich den Text fand, hatte ich dieses Klangbild im Kopf: ein gedehnter Schrei des Entsetzens – dieses „Ich kann nicht glauben, dass das passiert“, als Zivilistin in einem Kriegsgebiet. Dort ist alles zerbrechlich. Du öffnest die Tür – und es geschieht dir. Du kannst es nicht glauben, aber es ist da. Ich wollte diesen gedehnten Moment des Schreckens einfangen, der Vergewaltigung, des Eindringens in die eigene Privatsphäre, in Gedanken, Gefühle, den Körper. Es ist ein gewaltsamer Übergriff. Eine traumatische Erfahrung, die tiefe Wunden hinterlässt. Um das auszudrücken, verwendete ich Vokaltechniken aus der Welt der Extreme-Metal-Sänger:innen. Es geht um diesen gedehnten, schrecklichen Moment der Zeit, der nicht vergeht. Das war mein Fokus.
Später schrieb ich ein Epilog zu SCREAdoM – The Voiceless – The Starving Children in War Zones –, das dem Schmerz von Frauen gewidmet ist, die in Kriegszeiten sexuelle Gewalt erfahren haben. UnScream richtet unsere Aufmerksamkeit auf ein anderes Verbrechen: das stille Leiden hungernder Kinder in Kriegsgebieten. Im Zentrum steht eine Geste der Solidarität. Die Stimmen, die man hört – Schreie – wurden von Kindern, Jugendlichen und Studierenden aus ganz Europa gespendet. Sie geben ihre Stimmen jenen, die nicht mehr schreien können, deren Hunger mit Schweigen beantwortet wird. Es ist roh, unmittelbar und emotional dringlich. Entstanden ist es als Reaktion auf die humanitäre Katastrophe in Gaza und anderen vom Krieg zerstörten Regionen – ausgelöst durch die menschengemachte Natur des heutigen Hungers, wie sie von der WHO erklärt wurde, geformt durch politische Entscheidungen und durch den Versuch, kritische Stimmen wie die der UN-Sonderberichterstatterin Francesca Albanese zum Schweigen zu bringen. Dieses Werk weigert sich, wegzusehen. Es ist zugleich Klage und Protest. Ein klangliches Flehen. Eine Erinnerung daran, dass wir als globale Gesellschaft an den Verwundbarsten scheitern. Mit tiefem Dank an alle, die ihre Stimmen geliehen haben, um für die Stimmlosen zu sprechen.“

Nina Perović (*1985, Montenegro)
Apparatus
„In meinem Stück habe ich mich mit dem Thema Gewalt auseinandergesetzt. Damals war ich völlig davon eingenommen. Ich konnte es einfach nicht begreifen. Wie war das möglich? Warum konnte sich Jugoslawien nicht friedlich trennen? Warum musste daraus ein so brutaler Krieg werden? Warum taten Menschen Dinge, die jenseits jeder Beschreibung liegen?
Ich las Zeugenaussagen von Augenzeug:innen. Soldaten, die Vätern und Söhnen unter Todesdrohung befahlen, bestimmte Dinge zu tun … Ich fragte eine Freundin, die als Gerichtsdolmetscherin arbeitete, wie sie mit all dem umging. Und sie sagte zu mir: „Versuch es nicht zu rationalisieren. Nimm eine Tablette, schrei, atme, geh spazieren. Du musst zuerst deine Wut herauslassen. Denn wir können das auf der alltäglichen Ebene nicht verstehen.“ Wie aber übersetzt man so etwas in Kunst? Wie verwandelt man Kriegstrauma in Musik?
Ich nahm mich selbst beim Atmen auf und dachte dabei darüber nach. Das Geräusch des Atems dominiert das Stück. Ich arbeitete mit dem Dreieck aus Opfer, Täter und Zuschauer – und mit der Frage nach der Verantwortung für alles, was in diesem Dreieck geschah.
Ich hatte gerade eine dreijährige Ausbildung in Soziodrama und Psychodrama abgeschlossen und verwendete auch Elemente daraus in diesem Stück. Die Sänger:innen übernehmen Rollen – „Jugoslawien“, „Gerechtigkeit“, „Wir“ (das Volk) usw. – und sprechen Sätze, die ursprünglich in einer Sozio-Psychodrama-Sitzung ausgesprochen wurden, an der Teilnehmende aus dem ehemaligen Jugoslawien beteiligt waren.
Zunächst dachte ich, dieser Auftrag habe mit meiner persönlichen Lebenserfahrung zu tun. Ich wurde in Bosnien und Herzegowina geboren, in Mostar, aber wir flohen nach Montenegro, kurz bevor der Krieg begann. Dann mussten wir auch Montenegro verlassen, als der Krieg beinahe dorthin gelangte. Wir flohen nach Zypern, lebten in London und kehrten später nach Montenegro zurück.
Ja, wir sind geflohen – aber das Thema bleibt empfindlich. Für die zweite Version des Stücks habe ich Originalvideos eingebunden, die meine Eltern in den 1990er Jahren in Jugoslawien aufgenommen haben – Aufnahmen aus unserem Familienleben während dieser Zeit des ständigen Umzugs. Es scheint, als wäre die Kamera für sie ein Weg gewesen, mit dem Trauma umzugehen. Es gibt viele meditative Episoden, in denen Familie und Freund:innen einfach nur da sind, nichts tun, außer zu filmen. Doch man erkennt in den Gesichtern deutlich die Traumatisierung – während die Kinder immer spielen und lachen.
Für mich war die Arbeit mit diesen alten Familienvideos wie der Abschluss eines langen Prozesses der Auseinandersetzung mit dem Krieg – aus großer Distanz. Erst durch die Arbeit mit diesem Videomaterial in einer neueren Version des Stücks – im Nachdenken über die Perspektiven meiner Eltern sowie über mich selbst und meinen Bruder – habe ich Kraft und Einsicht gewonnen.“

Ylli Daklani (*1998, Kosovo)
When all the leaves have been burned
„Im Jahr 1974 veröffentlichte Jugoton – ein Plattenlabel im ehemaligen Jugoslawien – ein Volksmusik-Album, das von Mitgliedern des Rugova Autochthonous Folk Ensemble eingespielt wurde, einem 1947 gegründeten kosovo-albanischen Gesangs- und Tanzensemble, das bis heute aktiv ist. Das Album zeigt faszinierende Rugova-Traditionen, wie den Rugova-Schwerttanz, kënga e fytit e grave (Kehlgesang der Frauen), kënga maje krahu (Lied über der Schulter) und andere. Doch die Aufnahme, die mich am meisten berührte, war Duet Fleta („Blattduett“), in dem die Musiker Baumblätter als Instrumente verwenden – eine archaische Tradition unter Hirten. Ich war sofort von dieser Praxis fasziniert und wollte sie in mein Stück integrieren, also suchte ich nach einer modernen Lösung, die dieser Tradition ähnelt.
Der „brennende“ Teil des Werks bezieht sich auf die Erfahrungen, die meine Familie und ich während des Kosovo-Krieges gemacht haben. Ich war noch ein Baby, als meine Familie im April 1999 gewaltsam aus unserer Heimatstadt Mitrovica vertrieben wurde und unser Haus niedergebrannt wurde. Den Rest des Krieges verbrachte meine Familie als Geflüchtete in Albanien. Nach der Befreiung kehrten sie zurück und bauten schließlich sowohl das Haus als auch ihr Leben wieder auf. Das verbrannte Blatt in meinem Stück steht daher für die Zerstörung durch den Krieg, für die tiefgreifenden Veränderungen, die er mit sich brachte – und für den Wunsch und den Willen, nach allem wieder zu heilen und neu zu erblühen.
Auch der verwendete Text spiegelt dies wider. Er stammt aus dem Eröffnungslied der Lahuta e Malcís, einem albanischen Epos von Gjergj Fishta, das in Jugoslawien verboten war. Die Worte „Ndihmo, Zot, si m’ke ndihmue!“, auf Deutsch: „Hilf mir, Gott, wie du mir einst geholfen hast“, sind ein erneuter Hilferuf an Gott – diesmal für den Wiederaufbau.“
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