Die Praxis eines New Genius

ORTAs gemeinschaftlicher Akt der Verwandlung

Am 26. Oktober präsentiert Voices Berlin ein wahrhaft einzigartiges Ereignis – ein immersives Ritualtheater-Experiment des künstlerischen Kollektivs ORTA: ein mehrstufiges Ritual mit in Berlin ansässigen Researcher-Testers, zerbrechlicher Musik und einem Raum aus 17.000 Aluminium-Schalen, der das atomare Erbe Kasachstans in schöpferische Energie umwandelt.

Marina Davydova,
Leitung Programm Darstellende Künste
Voices Berlin Festival:

„Voices Berlin 2025 versammelt zahlreiche große Namen des europäischen Theaters – Milo Rau, Krystian Lupa, Sasha Waltz, Árpád Schilling. Und doch möchte ich innerhalb dieses Sternbilds besonders auf einen Gast aus einem weniger kartierten Punkt auf der Theaterlandkarte hinweisen – ORTA aus Kasachstan.

The New Genius Experience of The Great Atomic Bombreflector hat bereits die Welt umrundet: Es vertrat Kasachstan auf der Biennale in Venedig, wurde im New Yorker La MaMa gezeigt und in Seoul präsentiert. Jetzt kommt es erstmals nach Deutschland – in einer einzigen, einmaligen Aufführung, bevor es weiterzieht.

Das Werk bewegt sich in jenem spannungsgeladenen Zwischenraum zwischen zeitgenössischer Kunst und zeitgenössischem Theater – weshalb es ebenso im Ausstellungspavillon wie in der Black Box zu Hause ist. Schon als Installation bleibt es unvergesslich: ein starkes visuelles Feld, das lange auf der Netzhaut fortbesteht. Innerhalb dieses Raums entfaltet sich eine Performance – eine präzise komponierte Aktion, ebenso partizipativ wie spektakulär. Man sitzt nicht still im Dunkeln. Vom ersten Moment an wird man in ein sanftes Ritual hineingezogen, in ein Spiel, eine Atmosphäre, die ohne Druck einlädt und eine überraschende Quelle positiver Energie öffnet.

Der Titel verweist zugleich auf den politischen und historischen Kern. ‚Atomic‘ meint die sowjetischen Atomtests, die in Kasachstan durchgeführt wurden – ein Trauma, das Land und Menschen zutiefst geprägt hat, trotz offizieller Beschwichtigungen. Das Werk stellt sich diesem Erbe direkt. Zugleich wurzelt es in den Ideen von Sergej Kalmykow, des visionären Künstlers, der in Kasachstan lebte und starb und die Avantgarde des Silbernen Zeitalters bis in die 1960er Jahre hineintrug. Für Kalmykow war Genie keine himmlische Begabung, sondern eine Praxis, die allen offensteht. ORTA nimmt diesen Gedanken wörtlich – die Performance inszeniert eine Transformation, in der zerstörerische Energie in das schöpferische Potenzial eines jeden Teilnehmenden übergeht.

Die Form dieser Arbeit ist offen, gemeinschaftlich – und überraschend erhebend. Man lernt, man nimmt teil, und man geht verändert hinaus – nicht radikal vielleicht, aber unübersehbar.“

Sergej Kalmykow – Genie als Praxis

Illustrator, Bühnenbildner, Schriftsteller – Kalmykow war der einzige Avantgardist des Silbernen Zeitalters, der bis in die späten 1960er Jahre überlebte. Er hatte „Glück“: vergessen im Leben, erinnert nach dem Tod – und sofort als unvergleichlicher Künstler erkannt. Ein Genie. Schon diese Anerkennung bestätigt seine zentrale These: Genie ist eine Praxis – zugänglich, ja verpflichtend für alle. ORTA nimmt ihn beim Wort und schlägt vor, Genie gemeinsam mit dem Publikum zu praktizieren.

Das Fundament des Werks – das nukleare Erbe Kasachstans

Die Praxis berührt bewusst eine offene Wunde. Etwa 2.400 Nukleartests wurden in der Weltgeschichte durchgeführt – rund ein Viertel davon auf kasachischem Boden. Offizielle Berichte behaupteten einst: „Fast niemand wurde geschädigt.“ The Great Atomic Bombreflector nimmt dieses Erbe auf, legt es frei – und verwandelt es.

Was im Raum geschieht

Die Prämisse ist entwaffnend einfach: tödliche Energie in schöpferische Energie verwandeln. Die Zuschauenden treten ein und werden zu Mitwirkenden. Sie hüllen sich in Folie, setzen sanfte Filzkappen auf, schlagen kleine Funken, um kleine Lichter zu entzünden, lernen kurze Rhythmen, singen einander beim Namen. Anfangs wirkt es wie ein Spiel – mit Absicht. Die Verspieltheit ist ein Werkzeug. Dann kippt der Raum. Die versprochene Transformation wird spürbar – die Spannung, die Kunst gewöhnlich auf der Bühne bündelt, überträgt sich auf alle Anwesenden.

Erfahrungsberichte reisen mit dem Stück: In Moskau zupften hundert ernsthafte Erwachsene Dombras; in Italien lernten Zuschauer*innen, mit einer Batterie Licht zu schlagen; in Seoul standen Tränen in den Augen. Der Bombreflector wirkt – leise, aber unaufhaltsam.

Linie und Methode

Rustem Begenovs Weg führt über den russischen Theatererneuerer Boris Juchananow und über die Arbeit mit Heiner Goebbels, Theodoros Terzopoulos, Romeo Castellucci. Und doch ist der tiefste Abdruck Kalmykow – ein Genius des Ortes, dessen Methode sich hier und jetzt, mit denen, die anwesend sind, aktivieren lässt. Angesichts einer Welt, die von Waffen gesättigt ist, schlägt die Antwort von ORTA vor: Kunst – eine Performance, in der tödliche Kraft in schöpferische verwandelt wird, geteilt von allen.

Warum es zählt

Dieses Werk wird kein Leben radikal verändern und keinen Krieg beenden. Und doch – nachher ist das Leben nicht mehr ganz dasselbe. Die Performance bietet die seltene Möglichkeit, Transformation gemeinsam zu erleben, Aufmerksamkeit neu auszurichten und mit einem geteilten Nachglühen hinauszugehen, das bleibt.

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