Autorin: Alla Shenderova

Sing Frei

Ein Essay über Árpád Schillings Travelers

Beim Voices Berlin Festival zeigt das Litauische Jugendtheater die Inszenierung Travelers. Regie führt der ungarische Regisseur Árpád Schilling – ein ewiger Außenseiter und zugleich einer der prägenden Theatermacher Europas.

Das Jugendtheater zählt zu den besten Bühnen Litauens und nimmt auch auf der europäischen Theaterlandkarte einen besonderen Platz ein. Einen großen Anteil daran hat Audronis Liuga, Theaterleiter und Produzent, der die Compagnie seit fast einem Jahrzehnt führt.

Während der Pandemie initiierte Liuga eine Reihe von Inszenierungen, die sich mit dem Wesen des Krieges und der Psychologie seiner Täter beschäftigen. Den Auftakt bildete Austerlitz nach dem Roman von W. G. Sebald in der Regie von Krystian Lupa. Im Herbst 2022 folgte das Bühnen­debüt des bekannten ukrainischen Filmregisseurs Sergei Loznitsa am Jugendtheater mit Die Wohlgesinnten nach Jonathan Littell – ein Werk, das bis dahin nie ins Litauische übersetzt worden war. Der dritte Teil dieser „Kriegstrilogie“ entstand im April 2023: eine Adaption von J. M. Coetzees Warten auf die Barbaren. Liuga lud Árpád Schilling zur Regie ein – eine goldrichtige Entscheidung: Der Roman verwandelte sich in eine schonungslose Farce, ein Urteil über nahezu jede moderne Gesellschaft, die sich Feinde erschafft, um entfesselte Gewalt zu legitimieren. Die Figur des Richters – der menschliche Behandlung der gefangenen „Barbaren“ fordert, am Ende jedoch selbst gedemütigt wird – spielte Valentinas Masalskis mit verblüffender Tiefe. Überhaupt überraschte das gesamte Ensemble: elegante, zuvorkommende Kellner verwandelten sich im Handumdrehen in „Spezialeinheiten“, die erst jene quälten, die nicht „dazugehörten“, und bald darauf jeden, der ihnen missfiel. Die vierstündige Aufführung sog das Publikum wie ein schwarzes Loch ein – selbst nach der Pause blieb der Saal vollständig gefüllt.

Am Ende der vergangenen Spielzeit kehrte Schilling ans Jugendtheater zurück – in jener Arbeitsweise, die er am meisten bevorzugt: ohne vorab geschriebenen Text. Das Stück entsteht während der Proben. Wer sich an sein inzwischen legendäres Blackland erinnert, weiß, dass Schillings Inszenierungen sich oft wie eine Kette rasiermesserscharfer Szenen zu aktuellen Themen entfalten. In Travelers wird alles durch chorischen, aus Improvisation hervorgehenden Gesang zusammengehalten. Und das Leitmotiv ist das Theater selbst – seine Geschichte, seine Aufgabe.

„Zunächst wollte ich das Stück Trost nennen – im Sinne einer Hoffnungsspur in einer von Krisen erschütterten Welt“, sagt Árpád Schilling. „Doch während der Arbeit mit den Schauspielerinnen und Schauspielern verschob sich der Blick. Der Entstehungsprozess bedeutete, dass wir es gemeinsam erschufen: Jeden Tag ein Schritt nach vorn, jeden Tag eine neue Idee, eine neue Aufgabe, eine neue Situation. Als ich fragte, wie sie dieses Erlebnis beschreiben würden, sagten sie: ‚Wir sind unterwegs, wir reisen.‘ So entstand der neue Titel – Travelers. Mit dieser Produktion möchte ich die Bedeutung des Theaters betonen – dass es nur dann lebendig ist, wenn es in Bewegung bleibt: über Epochen, Stile, Themen hinweg, mit wechselnden Publika ... Wir reisen auch in uns selbst – spirituell, in ständiger Erneuerung. Reisen heißt für mich: neu geboren werden müssen, nicht aufgeben. Das Theater muss sich ebenso wandeln, um lebendig zu bleiben.

Aber wir brauchen etwas, das uns verbindet – etwas, das größer ist als Angst oder Stolz: keine Sprache, keine Flaggen, keine Geschichte. Der Chor – wie eine Karawane – zieht weiter und findet immer neue Bedeutungen. Wir müssen leben, und wir müssen singen. Was ist das für ein Leben, wenn wir nicht frei singen dürfen?“

Kritikerinnen loben bereits das außergewöhnliche Ensemble von Travelers – am Jugendtheater hören die Schauspielerinnen einander zu und stimmen sich aufeinander ein wie Musiker*innen. Und wer Schillings Arbeiten kennt, weiß, was sie antreibt: Ironie. Tiefschwarze, bis an die Grenze des Absurden, manchmal nah am Tabubruch. Und doch ist es beinahe unmöglich, nicht zu lachen.

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