Autorin: Alla Shenderova

Zwei Stimmen, eine Obsession

Milo Raus LA LETTRE: Zwischen klassischem Drama und Stand-up

Am 1. und 2. November präsentiert der Schweizer Theaterregisseur Milo Rau in der Alten Münze sein neues Werk LA LETTRE – intim in der Form, radikal in der Absicht und aus gelebter Erfahrung hervorgegangen.

Milo Rau gehört zu den prägenden Stimmen des zeitgenössischen europäischen Theaters. Seine Arbeiten sind auf dem ganzen Kontinent gefragt – von Gent, wo er fünf Jahre lang das NTGent leitete, bis nach Wien, wo er heute als Künstlerischer Leiter der Wiener Festwochen, eines der renommiertesten Theaterfestivals der Welt, verantwortlich zeichnet.

Wer Raus Arbeiten kennt, weiß, dass er ein Meister des politischen und gesellschaftlichen Erzählens ist. Zu seinen bedeutendsten Inszenierungen zählen Hate Radio (2011, über den Völkermord in Ruanda), Compassion: Die Geschichte des Maschinengewehrs (2016, über das Rote Kreuz und koloniale Gewalt in Afrika), Die Wiederholung: Geschichte des Theaters (2018, über Gewalt und Homophobie) sowie Five Easy Pieces (2019, basierend auf dem Fall des belgischen Serienmörders Marc Dutroux), unter vielen anderen.

2018 veröffentlichte Rau sein eigenes Theatermanifest – zehn prägnante Thesen, die, ähnlich wie die Dogma-95-Bewegung im Film, eine radikale Neubestimmung der Aufgabe des Theaters forderten. Theater, so Rau, solle die Welt nicht nur darstellen, sondern sie zu verändern versuchen. Alle Beteiligten – Profis, Amateure, Kinder und selbst zufällige Zuschauerinnen – sollten als Mitautorinnen gelten. Requisiten müssten in ein Auto passen; die Bühne solle von Ort zu Ort wandern. Idealerweise gehe man nicht zu einer Milo-Rau-Produktion – die Produktion komme zu einem selbst.

In diesem Sommer wurde diese Idee beim Festival von Avignon vollständig Realität. Raus neues Werk LA LETTRE („Der Brief“), in Zusammenarbeit mit dem Festival entstanden, wurde auf fast zwanzig verschiedenen Bühnen gespielt – von den Innenhöfen Avignons bis in die umliegenden provenzalischen Dörfer. Dieses Werk ist nun auch bei Voices Berlin zu sehen.

„Es geht darum, ein Stück zu schaffen, das für alle zugänglich ist – eine Aufführung, die ganz unterschiedliche Publika einschließt“, erklärte Rau anlässlich der Premiere. „Ich wollte eine Form von Stand-up entwickeln, die dem bürgerlichen Theatervertrag entkommt. Das Stück verweist in Fragmenten auf die klassische Dramentradition – diese Bruchstücke helfen uns, direkter zum Publikum zu sprechen. Es ist die Geschichte einer doppelten Obsession.“

In seiner Form ist LA LETTRE tatsächlich eine Art doppelter Stand-up oder Autofiktion, gespielt auf einer fast leeren Bühne – zwei Stühle und wenige Requisiten genügen. Mit seiner charakteristischen Feinfühligkeit vermeidet Rau didaktische Aussagen gegen das Bürgertum. Stattdessen teilen zwei Darstellende – der flämische Schauspieler Arne De Tremerie und die französisch-kamerunische Schauspielerin Olga Mouak – zutiefst persönliche Familiengeschichten, die ihr Selbstbild und ihren Weg zum Theater geprägt haben.

Olgas Großmutter lebte in Kamerun, litt an Schizophrenie und hörte Stimmen. Sie starb bei einem Wohnungsbrand – ein Ereignis, das Olga, in Orléans geboren, unbewusst mit ihrem eigenen Traum verknüpfte, Jeanne d’Arc zu spielen. Arnes Großmutter hieß Nina – nach Nina Saretschna aus Tschechows Die Möwe. Seine Mutter, die sich das Leben nahm, hinterließ einen Brief voller Liebe – an ihre Tochter und an das Theater.

Hier sollte man aufhören, um nicht zu viel zu verraten. Nur so viel: Wie so oft in seinem Werk kehrt Milo Rau auch hier zur Geschichte des Theaters zurück – und testet ihre Grenzen, bis irgendwann die Linie zwischen Bühne und Leben ganz verschwindet.

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Zwei Stimmen, eine Obsession — Voices Berlin Festival