Author: Alexey Munipov

„Wir sehnen uns nach Musik, die mit dem Hier und Jetzt verbunden ist“

Ein Gespräch mit Emmanuelle Bernard und Clemens Hund-Göschel (Zafraan Ensemble)

Am 25. Oktober im Radialsystem präsentiert das Berliner Ensemble für zeitgenössische Musik, das Zafraan Ensemble, Eigenständige Stimmen. Alexey Munipov sprach mit den künstlerischen Leitern Emmanuelle Bernard und Clemens Hund-Göschel darüber, wie sie das Programm gestaltet haben, wie es gehört werden sollte – und ob man dafür überhaupt Vorwissen braucht.

Zafraan ist ein Ensemble, das sich auf zeitgenössische Musik spezialisiert hat. Wie würden Sie „zeitgenössisch“ definieren?

Emmanuelle Bernard: Für mich ist es ein fortlaufender Prozess des Denkens, Schreibens, Spielens und Hörens im Jetzt – keine festgelegte Epoche, kein Anhang an die „klassische Musik“. Es ist eine sich ständig weiterentwickelnde Sprache, die in gewisser Weise – selbst in der Haltung der Ablehnung – weiterhin auf allem basiert, was zuvor geschrieben wurde. Ich liebe älteres Repertoire und spiele es sehr gern, aber ich wäre traurig, nicht an der Musik teilzuhaben, die heute komponiert wird – zumal „klassische“ Musik, einschließlich der sogenannten neuen Musik, ohnehin nur einen winzigen Bruchteil der musikalischen Welt ausmacht.

Historisch verschieben sich die Grenzen ständig. Als wir vor zwanzig Jahren in Berlin studierten, bedeutete „neue Musik“ für uns Stücke aus den 1990er Jahren, während dieselbe Institution damit noch Werke aus den 1910er oder 1920er Jahren meinte.

Clemens Hund-Göschel: In Klavierprüfungen konnte man zum Beispiel noch späten Skrjabin spielen. Pianist*innen haben eine besondere Perspektive: Wir spielen ein Instrument, das um 1880 entwickelt wurde, und unser traditionelles Repertoire – von Bach bis vielleicht in die 1920er Jahre – umfasst gerade einmal zwei Jahrhunderte. Und seitdem sind schon wieder mehr als hundert Jahre vergangen.

Für mich muss sich zeitgenössische Musik nicht mehr zwingend auf die klassische Tradition beziehen. Viele faszinierende zeitgenössische Komponist*innen haben nie ein Instrument oder Komposition im traditionellen Sinn studiert und denken dennoch tief und schaffen relevante Werke.

Das Spannendste ist die Zusammenarbeit mit Menschen, die in derselben Welt leben wie wir – die Nachrichten lesen, die Klänge um sich herum wahrnehmen und auf die Gegenwart reagieren. Was machen sie musikalisch, klanglich daraus?

Emmanuelle Bernard: Ein Stück kann als Reaktion auf das Zeitgeschehen entstehen – muss aber nicht. Es kann auch neue Empfindungen oder Gedanken auslösen. Der Bezug zur Realität kann sehr unterschiedliche Formen annehmen; wir hören gern danach – weil wir, indem wir das tun, auch dem Leben zuhören, das wir jetzt leben. Wir sehnen uns nach Musik, die mit dem Hier und Jetzt verbunden ist.

Zeitgenössische Musik ist ein riesiges Feld. Wie navigieren Sie darin? Wonach suchen Sie – und was meiden Sie?

Clemens Hund-Göschel: Wir sind zehn Musikerinnen, und jeder von uns ist auch in anderen Formationen aktiv. Komponierende schreiben uns, wir besuchen Konzerte, recherchieren online, bringen einander Vorschläge mit. Manchmal geben wir Werke direkt in Auftrag, zugeschnitten auf unsere Besetzung, statt ein bereits existierendes Stück zu suchen, das nur zufällig passt.

Emmanuelle Bernard: Zuerst hören wir. Wenn es eine Aufnahme gibt, ist das unser Einstieg. Sehr schnell spürt man, ob ein Stück auf Neue-Musik-Klischees zurückgreift oder eine persönliche Klangsprache trägt. Wir achten meist auf zwei Dinge: auf die klangfarbliche Welt – ihre Sonoritäten und Texturen – und auf ihre Zeitlichkeit, also wie sie sich entfaltet. Manche Stücke beginnen interessant, verlieren dann aber den Faden. Andere halten Spannung, auch wenn „Nicht-Entwicklung“ gerade das Prinzip ist. Am Ende geht es um die innere Logik der Zeit.

Manchmal hört man Werke, in denen es hauptsächlich darum geht, neue Spieltechniken zu erkunden – neue Arten, Klang zu erzeugen –, aber dahinter steht keine wirkliche Idee. Nur ein Inventar von „extended techniques“, ohne dass sie organisch eingebunden werden. Erkundung allein genügt nicht – die Klänge müssen sich zu einem Erlebnis fügen.

Clemens Hund-Göschel: Stilistisch sind wir offen – unsere Instrumente verankern uns zwar, aber wir programmieren auch performative oder konzeptuelle Arbeiten. Wenn ein Stück ein überzeugendes Zeitgefühl besitzt und eine klare Beziehung zwischen Klang, Geste und möglichen visuellen oder theatralischen Elementen aufweist, kann es passen. Manchmal funktioniert das im einen Programm, aber nicht im anderen.

Wie entstehen im Zafraan Ensemble künstlerische Entscheidungen? Wer entscheidet, was gespielt wird – und was nicht?

Emmanuelle Bernard:
Als wir angefangen haben, waren wir ein Kreis gleichgesinnter Musikerinnen Anfang zwanzig, und uns gefiel der Gedanke, gemeinsam zu entscheiden – auch darüber zu streiten. Diesen Geist haben wir bewahrt. Es braucht mehr Zeit, viel Diskussion und Planung, aber es nährt die Entscheidungen und sorgt dafür, dass jeder auf der Bühne wirklich mitträgt. Unsere künstlerische Leitung ist bewusst kollektiv organisiert.

Clemens Hund-Göschel: In gewissem Sinne gibt es bei uns keine einzelne Person, die „verantwortlich“ ist – alle sind es. Die künstlerische Leitung rotiert; mehr als die Hälfte der Mitglieder von Zafraan hat diese Rolle schon einmal übernommen. Das macht uns besonders.

Das Wichtigste ist, dass auf der Bühne alle das Gefühl haben, genau zu wissen, warum wir da sind. Es geht nicht darum: „Hier sind die Noten, spielen wir sie halt, weil jemand das so entschieden hat.“ Die Energie ist eine völlig andere, wenn alle hinter dem Programm stehen.

Woran erkennen Sie, dass ein Programm funktioniert hat?

Emmanuelle Bernard:
Meist merkt man es schon vorher. Wenn nicht, wartet man ab. Man spürt es im Raum – in der geteilten Energie zwischen Publikum und Musiker*innen, in der Qualität der Konzentration. Wenn es gelingt, entsteht danach eine ruhige, offene Atmosphäre.

Clemens Hund-Göschel: Die Menschen eilen nicht hinaus; sie wollen sprechen, sie denken noch nach, erinnern sich. Für uns hat Erfolg nichts mit der Größe des Publikums zu tun. Ein kleines Publikum kann zutiefst bewegt sein – und das zählt genauso. In Proben und Aufführungen spüren wir, wenn ein Programm mehr wird als die Summe seiner Teile. Dann wissen wir, dass wir damit weitergehen wollen.

„Eigenständige Stimmen“ ist ein sehr vielfältiges Programm – mit neuer Musik, die überwiegend 2024–2025 entstanden ist und von vielen Komponist*innen stammt, die dem Publikum noch nicht vertraut sein dürften. Wie haben Sie die Stücke ausgewählt?

Clemens Hund-Göschel: Wir haben gemeinsam nach Stücken von Komponist*innen gesucht, die – unabhängig von ihrer Biografie – mitten in all diesen politischen Herausforderungen eine eigene Stimme gefunden haben, eine persönliche Klangsprache, die nicht bloß eine Collage von Traditionen ist. Viele wurden an einem Ort geboren, an einem anderen ausgebildet und arbeiten heute wieder woanders. Ihre Hintergründe sind sehr unterschiedlich. Aber es geht nicht um eine „Mischung von Stilen“ – entscheidend ist die innere Perspektive, die aus diesen Wegen hervorgeht.

Ein Beispiel: Wir arbeiten schon lange mit Samir Odeh-Tamimi [palästinensisch-israelischer Komponist, lebt in Berlin] und finden seine Sprache einzigartig, daher dachten wir sofort an ihn. Danach haben wir lange gehört, diskutiert, weitergesucht. Wir sind nicht bei Biografien oder Lebensläufen angefangen. Am wichtigsten war, ein Programm zu gestalten, in dem alle Stücke als Ganzes miteinander funktionieren.

Emmanuelle Bernard: Ganz praktisch haben wir uns mit Sergej Newski [Kurator von Voices Berlin] über Komponist*innen ausgetauscht, die uns besonders erscheinen – Menschen, deren Musik wirklich eine neue Sprache anbietet. Mit einigen haben wir bereits gearbeitet, andere haben wir erst in diesem Prozess entdeckt. So entstand ein ausgewogenes Programm: zur Hälfte aus bestehenden Kooperationen, zur Hälfte aus neuen Begegnungen.

Ja, das Festival interessiert sich für Geografie und Bewegung, aber unser Hauptkriterium war musikalisch – also das, was wir tatsächlich im Werk hören. Wir reduzieren Menschen nicht darauf, woher sie kommen. Das reicht einfach nicht.

Können wir einen kurzen Rundgang durch das Programm machen?

Emmanuelle Bernard: Gern. Das erste Stück ist Winding Garments von Oleg Krokhalev. Sobald es beginnt, ist man woanders. Ein rauschender, flirrend-schimmernder Hintergrund aus kurzen, diskontinuierlichen Klängen bildet ein Gewebe, eine Textur. Davor tritt die Viola in den Vordergrund – ebenfalls eine gebrochene Linie, aber in einem anderen Raum. Es wirkt tatsächlich wie eine Maschine, die Stoff webt und plötzlich zu sprechen beginnt.

Clemens Hund-Göschel: Der Interpret benutzt einen Motor, der mit den Saiten der Viola verbunden ist und während des Spiels ihre Spannung verändert. Man spürt das sogar, ohne es zu sehen – die Spannung verschiebt sich körperlich. Es ist ein stilles Stück, ein idealer Auftakt: Es verrät nicht zu viel, ruft aber sofort Konzentration hervor.

Bei Samir Odeh-Tamimi haben wir die Partitur noch nicht, aber wir haben oft mit ihm gearbeitet. Seine Schreibweise und Klangwelt sind einzigartig, oft hochenergetisch. Wenn er von seiner Kindheit erzählt, beschreibt er etwa, wie jemand mit solcher Kraft und rituellen Energie Trommel spielte, dass es sich tief eingebrannt hat. Diese Erfahrung hört man in vielen seiner Werke.

Er hat bei der koreanischen Komponistin Younghi Pagh-Paan studiert und interessiert sich stark für die antike griechische Kultur – seine Einflüsse sind also weit verzweigt. Aber es geht nicht darum, zu verfolgen, „woher“ eine bestimmte Note kommt. Es geht darum, was er aus diesen Erfahrungen macht – wie er sie zusammenführt. Kindheitserinnerungen, Gerüche, Geräusche – all das taucht irgendwann in der eigenen musikalischen Sprache wieder auf.

Dann folgt [der syrische Komponist und Gitarrist] Tarek Alali. Ich stelle mir vor, dass er sein Gespür für mikrotonale Nuancen schon als Kind entwickelt hat – durch die musikalische Umgebung, die ihn umgab.

Emmanuelle Bernard: In seiner Tradition ist Gesang ganz anders als das, was wir in der europäischen klassischen Ausbildung lernen – er ist nicht auf Halbtöne begrenzt.

Clemens Hund-Göschel: Dieses Stück entstand ursprünglich im Rahmen einer Meisterklasse, die wir an der Hochschule für Musik Saar gegeben haben. Es hat uns so gefallen, dass wir es einem größeren Publikum zeigen wollten. Für die Instrumente klingt es recht „klassisch“, und zugleich ist die melodische Linie und Intonation absolut eigen. Es ist nicht einfach: „Ich nehme syrische Intonation und mische sie mit zeitgenössischen Akkorden.“ Es steht völlig für sich.

Emmanuelle Bernard: Ja, es ist fließender als die Stücke darum herum – kontinuierliche Linien statt fragmentierter Gesten. Und mit seinem Titel An den Ruinen schwingt es auf bedrückende Weise mit dem Zustand der Welt mit.

Emmanuelle Bernard: Als Nächstes kommt multicounterspeechless von Sivan Cohen Elias [israelische elektroakustische Komponistin und Soundkünstlerin]. Es hat etwas mit Krokhalevs Stück gemeinsam – dieses vielschichtige Verhältnis von Hintergrund und Vordergrund, mit Elektronik und Ausbrüchen kurzer, rauschender Fragmente. Aber das Saxofon spricht in einer völlig anderen Charakteristik – wilder, impulsiver, wie der Titel schon andeutet.

Clemens Hund-Göschel: Ja, es wirkt wie eine Art mehrsprachige Rede, die etwas sagen will, aber nach Worten ringt. Viele Komponist*innen leben heute zwischen Sprachen; sie überbrücken ständig Zwischenräume. Diese Erfahrung sickert ganz natürlich in ihre musikalische Sprache ein.

Dann folgt Michaela Catranis – Inside the Veins of a Petal. Michaela ist in den USA aufgewachsen. Ihr Vater ist Grieche, und die Familie hat einen Teil ihres Lebens im Libanon verbracht – ich glaube, acht Geschwister insgesamt! Sie hat an der Hanns Eisler Hochschule bei Hanspeter Kyburz Komposition studiert. Als ich ihre Musik zum ersten Mal hörte, konnte ich kaum glauben, dass sie dort studiert hat – sie klang so anders als ihre Kolleg*innen.

Dieses Stück ist ein spezieller Auftrag für uns – eine Uraufführung. Im Mittelpunkt steht ein einzigartiges Percussionsetup, entwickelt von unserem Schlagzeuger Daniel Eichholz: ein persönliches Drumset, erweitert um riesige Holzblöcke und Teile aus seinem ehemaligen Auto.

Emmanuelle Bernard: Einschließlich von Elementen, die er gemeinsam mit seinem Vater gebaut hat. Es ist sehr individuell. Normalerweise erfindet jede Komponistin und jeder Komponist für jedes Stück ein neues Setup – die Schlagzeuger*innen müssen sich ständig neu anpassen. Aber Daniel hat eine eigene Konfiguration entwickelt, und wir ermutigen mittlerweile andere, genau dafür zu schreiben – als wäre es ein eigenes Instrument. Das prägt den Klang unseres Ensembles auf sehr persönliche Weise.

Clemens Hund-Göschel: Danach kommt Mansoor Hosseini [im Iran geboren, schwedischer Komponist] – UFO (Unidentified Flapping Object). Wir haben dieses Jahr viel mit ihm gearbeitet. Er ist auch Filmemacher, daher verschränkt seine Arbeit oft Klang und Bewegung. In einem jüngsten Projekt, das wir gemeinsam realisiert haben, wurde eine Harfenistin buchstäblich von zwei „Dirigenten“ geleitet – einer steuerte den Ausdruck, der andere das Timing –, um zu erforschen, wie visuelle Signale musikalisches Verhalten formen.

In UFO gibt es wieder eine Videoprojektion: Der Schatten des Kontrabassisten wird mit Objekten manipuliert – tatsächlich „unidentified“ –, sodass ein Dialog zwischen Geste und Klang entsteht. Es ist eine weitere Form künstlerischer Forschung darüber, wie körperliche Bewegung die Wahrnehmung von Klang verändert.

Emmanuelle Bernard: Dann folgt Denge von Zeynep Gedizlioğlu [türkische Komponistin]. Wir haben das Stück bereits gespielt – es gehört zu Clemens’ Favoriten. Es ist wunderschön, sehr zugänglich, und an dieser Stelle des Konzerts führt es alle wieder zusammen. Reiche Farben, ein warmer Klavierklang, keine Elektronik – wie ein tiefes Durchatmen zwischen Extremen, ein Moment der Rückbindung.

Alexey Munipov: Und das letzte Stück ist Leonid Desyatnikovs An Attempt to Ascend. Er hat diese neue Kantate einmal als Reflexion über seine „schillernde Identität“ nach der Emigration beschrieben – und vor diesem Hintergrund ist der Titel absolut stimmig.

Clemens Hund-Göschel: Ja, wir sind noch mitten in der Vorbereitung. Es ist eine Uraufführung und das Finale des Abends – sicher eines der zentralen Werke des Programms.

Es ist ein großartiges Programm — aber warum sollte man kommen? Was macht es besonders?

Emmanuelle Bernard: Ich würde sagen: Es wird ein sehr kontrastreiches Hörerlebnis. Man wird Dinge hören, die man so noch nie gehört hat. Sie ziehen sofort die Aufmerksamkeit auf sich. Die Stücke sind sehr unterschiedlich – von leisen, stark reduzierten Soli, die aktives Zuhören verlangen, bis hin zu extrovertierten Ensemblewerken, eines sogar mit Gesang. Unterschiedliche Sprachen, unterschiedliche Klangwelten. Die Vorstellungskraft wird ständig angeregt.

Clemens Hund-Göschel: Genau, das Programm wandert durch sehr verschiedene Welten. Manche Stücke erforschen Klang als Rauschen oder Hintergrundtextur, andere steigern sich fast zu orchestraler Intensität – beinahe wie eine Mini-Oper. Es ist eine farbige Reise. Auch wenn man die Komponierenden nicht kennt, ist die Vielfalt so groß, dass sicher etwas dabei ist, das berührt oder inspiriert.

Auch die Altersunterschiede der Komponist*innen sind groß – etwas, das man beim Hören nicht wissen muss, das aber eine zusätzliche Schicht bildet. Die Jüngste ist wirklich sehr jung; die Bandbreite war nicht geplant, aber sie ist eine schöne Facette des Programms.

Aaron Copland schrieb ein berühmtes Buch mit dem Titel What to Listen for in Music, um dem Publikum Orientierung zu geben, was nicht zu überhören ist. Was sollte man in diesem Konzert nicht verpassen?

Emmanuelle Bernard: Bleiben Sie bei Ihrem eigenen Geschmack – achten Sie auf Ihre Reaktionen zu jedem einzelnen Stück und darauf, wie sie sich unterscheiden. Es sind acht Werke; zusammen bilden sie ein Ganzes. Es ist immer spannend wahrzunehmen, wie sie sich im Verlauf miteinander verbinden – zeitlich, energetisch.

Vielleicht wird Sie eines völlig einnehmen – wunderbar. Aber achten Sie auch auf die Kontraste. Diese acht Komponistinnen haben alle etwas zu sagen. Versuchen Sie, nacheinander in jede Klangwelt einzutreten. Man wird nicht alles „erfassen“, aber es entsteht ein Dialog – zwischen Ihnen und dem Ohr der Komponistinnen. Jedes Mal lässt sich etwas Bedeutungsvolles finden.

Clemens Hund-Göschel: Ja, es geht mehr um die innere Haltung – Offenheit – als um das Hineinzoomen auf irgendein einzelnes strukturelles Detail.

Und was, wenn eine Komponistin sagt: „Mein Hintergrund bedeutet nichts. Lasst die Musik für sich sprechen. Ich will nicht exotisiert werden – ich bin kein exotischer Vogel.“

Clemens Hund-Göschel: Das ist natürlich völlig verständlich – und sehr menschlich. Es gehört zu den Herausforderungen beim Kuratieren. Deshalb ist unser wichtigstes Kriterium, Stücke zu spielen, zu denen wir eine emotionale und musikalische Verbindung spüren – nicht Werke auszuwählen, weil jemand aus einem bestimmten Land stammt.

Wir wollen kein Stück spielen, nur weil jemand aus einer bestimmten Region kommt. Wir wählen es, weil die Stimme interessant und individuell ist. Manche Komponist*innen haben uns sogar gebeten, ihre Nationalität im Programm nicht zu erwähnen – und ich verstehe das sehr gut. Sie darf nicht der Hauptgrund sein, warum ein Werk vertreten ist.

Clemens Hund-Göschel: Nehmen wir zum Beispiel Dror Feiler – er wurde in Israel geboren und ist dort aufgewachsen, aber er ist schwedischer Staatsbürger und hat sein Herkunftsland verlassen. Wenn jedes Programm ständig betont, woher er „kommt“, überlagert das seine künstlerischen Entscheidungen und seinen heutigen Standort. Ein neues Werk kann von ganz anderen Fragen inspiriert sein – nicht vom politischen oder geografischen Hintergrund.

Deshalb ist es für uns wichtig, einen Raum zu schaffen, in dem Musik existieren kann, ohne politische oder nationale Etiketten tragen zu müssen. Kontext ist relevant, aber er darf nicht das Hören dominieren.

Sollte das Publikum wissen, woher eine Komponistin oder ein Komponist stammt? Ist dieses Wissen beim Hören wichtig?

Emmanuelle Bernard: Ich finde nicht, dass es nötig ist. Am besten ist es einfach zu hören – wie Sie sagten: hören zu lernen – und wahrzunehmen, womit man sich emotional verbindet. Danach, wenn Neugier entsteht, kann man fragen: Wer hat das geschrieben? Wo ist diese Person aufgewachsen? Welche Welt hat diesen Klang geprägt? Das fühlt sich für mich viel natürlicher an.

Clemens Hund-Göschel: Man wird durch das Hören eines Stücks nicht die Politik eines Landes verstehen – so funktioniert es nicht. Aber man kann mit etwas in Resonanz gehen, das derdie Komponistin gefühlt oder erlebt hat – etwas Universelles. Vielleicht erinnert es an eine eigene Erinnerung, ruft ein bestimmtes Gefühl hervor.

Emmanuelle Bernard: Und wenn man beginnt, weiter zu forschen – wenn man ein Stück schätzt und mehr erfahren will – lernt man auch über die Kultur dahinter, entdeckt Unterschiede und Gemeinsamkeiten. Diese Neugier führt zu tieferem Verständnis und Verbindung. Sie erleichtert das Gespräch mit Menschen, öffnet den Blick – und macht die Welt ein Stück weit zugänglicher und freundlicher.

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